Das Einkaufsverhalten der Menschen befindet sich schon immer in einem stetigen Wandel. Technologische, gesellschaftliche, soziale und sogar gesundheitspolitische Ereignisse beeinflussen, wie und wo wir etwas kaufen. Um die vielen Verkaufskanäle immer wieder aufeinander abzustimmen und zu orchestrieren, kommen Unternehmen um eine ausgeklügelte Omnichannel-Strategie nicht herum. Die edge-Redaktion hat sich mit Frank Müller und Kristina Dolezych zwei absolute Omnichannel-Experten geschnappt und mit Fragen rund um das für den (Online-)Handel so wichtige Thema gelöchert.
Weshalb auf einmal jeder darüber spricht, was bei einer Omnichannel-Strategie beachtet werden muss, wo hier derzeit noch viel Potenzial verschenkt wird und warum das Thema auch für B2B-Unternehmen hochrelevant ist, lesen Sie in diesem Interview. Und: Die beiden lüften das Geheimnis um ihre persönlichen Top-Brands, welche die Omnichannel-Herausforderungen aus ihrer Sicht am besten gemeistert haben.
Omnichannel ist in aller Munde und gehört nicht länger zu den großen E-Commerce-Trends, sondern ist inzwischen eigentlich schon ein Must-Have. Warum hat das Thema auf einmal so viel Fahrt aufgenommen?
Kristina: In der Tat, über Omnichannel sprechen wir in der Branche ja wirklich schon etwas länger und eigentlich ist es auch gar kein Buzzword mehr. Im Alltag stelle ich jedoch häufig fest, dass nicht jeder Omnichannel-Ansatz auch wirklich zu 100 Prozent die Anforderungen hieran erfüllt.
Doch warum ist das Thema derzeit in aller Munde? Die Pandemie und die verschiedenen Lockdowns der vergangenen beiden Jahre dienten der Digitalisierung im Einzelhandel als Katalysator. Ich erinnere mich noch, wie wir bei Louis Vuitton damals im März 2020 gefühlt von einem auf den nächsten Tag fast alle unsere Geschäfte in Deutschland schließen mussten – etwas zum damaligen Zeitpunkt fast Unvorstellbares. Dennoch, sowohl wir als Einzelhändler als auch unsere Kunden mussten sich an dieses „New Normal” gewöhnen.
Was blieb sind die Kunden, die während der Lockdowns Gefallen an der mit diesem Digitalisierungsfortschritt verbundenen Bequemlichkeit gefunden haben und heute mehr denn je den Bedarf an einem hybriden Einkaufserlebnis haben.
Frank: Das Thema Omnichannel ist omnipräsent, ohne Frage. Du hast es schon angesprochen, Kristina: Viele Unternehmen sind seit 2020 in der Situation sich zu überlegen und zu analysieren, auf welchen Kanälen mit welchem Content sie ihre Kunden überzeugen Waren und Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen. Vor Corona war das z. B. in den Points of Sales durch die Verkäufer aktiv gewährleistet. Seit sich das Einkaufsverhalten allerdings sehr stark in Richtung online verändert hat, sind Unternehmen gezwungen darauf zu reagieren und Maßnahmen zu ergreifen. Denn, so viel ist klar, dieser Trend, der sicherlich durch die Pandemie befeuert wurde, wird auch weiterhin Bestand haben. Und es stimmt absolut: Ex-post betrachtet haben die Kunden gefallen am Onlineeinkauf gefunden. Sie genießen die Convenience und das „Always-on“-Einkaufserlebnis. Kunden aller Altersschichten agieren mit den Marken. Dies jedoch auf unterschiedlichen Kanälen. Im Vergleich zu 2016 hat sich die Anzahl der Kanäle verdoppelt. Und jeder Kanal birgt in sich und für jeden Einkaufstyp ein eigenes Erlebnis – von Instagram, TikTok bis hin zum Webshop.
Für wen lohnt sich eine Omnichannel-Strategie?
Frank: Omnichannel wird häufig immer als eine Lösung bei B2C-Geschäftsmodellen betrachtet. Dies wohl nur deswegen, da uns das B2C-Geschäft sehr vertraut ist, da wir quasi tagtäglich damit in Kontakt stehen. Jedoch auch – oder vielleicht gerade – ist es auch für B2B-Unternehmen sehr relevant. Omnichannel ist im B2B-Kontext effektiver als traditionelle Verkaufsmodelle allein. Mehr als 90 Prozent der B2B-Unternehmen sagen in einer Studie von McKinsey, dass ihr Go-to-Market-Modell genauso effektiv oder effektiver ist als vor Beginn der Pandemie. Und 31 Prozent glauben, dass ihr Modell „viel effektiver" ist, wenn es darum geht, Kunden zu erreichen und zu bedienen; verglichen mit neun Prozent, die das gleiche vor zwei Jahren sagten – das ist eine Verdreifachung. Daher ist Omnichannel eine „Omni-Chance”, die den Unternehmen die Arbeit erleichtert und ein größeres Umsatzwachstum ermöglicht.
Kristina: Da kann ich nur zustimmen. Im Grunde lohnt sich eine Omnichannel-Strategie für jedes langfristig denkende Unternehmen, das seine Kunden noch mehr in den Fokus seiner unternehmerischen Wertschöpfung stellen möchte. Die Frage allerdings, die sich jedes Unternehmen in dieser Hinsicht auch stellen muss, ist, ob es immer direkt ein Omnichannel-Ansatz sein soll oder unter Umständen auch eine Vorstufe erste Anforderungen und Bedarfe erfüllt. Manchmal kann nämlich auch bereits eine wirklich gut umgesetzte Multichannel- bzw. Cross-Channel-Strategie schon erste Erfolge erzielen.
Prinzipiell ist die strategische Stoßrichtung des Unternehmens wesentlich von der Zielgruppe des Unternehmens mit ihren individuellen Erwartungen und Bedürfnissen selbst sowie von den angebotenen Produkten bzw. Leistungen abhängig.
Wo verschenken Unternehmen aus eurer Sicht beim Thema Omnichannel derzeit am meisten Potenzial?
Kristina: Aus meiner persönlichen Erfahrung halten zu viele Unternehmen zu sehr an gewachsenen Strukturen und Prozessen innerhalb ihrer Organisation sowie gleichzeitig an seit Jahrzehnten bestehenden Systemlandschaften fest. Beides erschwert es dem Mitarbeiter, der letztlich im direkten Austausch mit dem Kunden steht, die „seamless customer experience” zu schaffen, die von Kunden heute erwartet wird. Für den Kunden, der sowohl on- und offline einkauft als auch mit dem Unternehmen über verschiedenste Kanäle interagiert, gibt es keine unterschiedlichen Kanäle. Er nimmt alles zusammen als individuelles Kundenerlebnis wahr. Unternehmen sollten ihre internen Komplexitäten deshalb, in meinen Augen, nicht ihren Kunden aufbürden. Da kann am Ende nur einer verlieren.
Frank: Aus meiner Sicht müssen sich alle Unternehmen zunächst einmal tiefgreifende Gedanken dazu machen, wer überhaupt ihre Kunden sind. Wie agieren diese? Welche Herausforderungen und Zielsetzungen haben sie? Auf welchen Kanälen sind sie aktiv? Auf was reagieren sie? Dabei hilft es nicht nur zu verstehen und zu wissen, wer die „Zielgruppen“ sind, sondern wirklich ein Verständnis zu den idealtypischen Kunden zu entwickeln. Mit diesem Outside-In-Blick muss man dann ableiten was die notwendigen Touchpoints und Kanäle sind. Kaufen die Kunden lieber online oder lassen sie sich vor Ort beraten? Über welche Kanäle entscheiden sie sich für Käufe und wo sehen sie Ihre Werbung? Dabei sollten sich Unternehmen gerade zu Beginn auf wenige, aber wichtige Kanäle konzentrieren. Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut und so gilt es auch im Bereich Omnichannel mit einem Outside-In-Blick die Anforderungen zu erfassen und diese dann sukzessive nach „innen“ umzusetzen. Und niemals umgekehrt!
Wie sieht eine optimale Omnichannel Customer Journey aus? Und was sind hier klare No-Gos?
Kristina: In wenigen Schlagworten würde ich sagen, dass sich die perfekte Omnichannel Customer Journey durch eine Konsistenz über alle Kanäle hinweg auszeichnet. Sie erfüllt dabei alle Ansprüche und Bedürfnisse des Kunden an dessen individuelle Flexibilität, Bequemlichkeit, Informationsbedarf sowie auf ihn persönlich zugeschnittene Inhalte und Angebote.
Wenn ich in meinem früheren Job die Customer Experience thematisiert habe, habe ich meine Kollegen immer eingeladen, eine Testbestellung auf unserer Webseite zu platzieren, um diesen Abschnitt der Journey selbst zu erleben, oder einen speziellen Service selbst von Anfang bis Ende zu testen. Getreu dem Motto „Put Yourself in Your Customer's Shoes” kann diese Erfahrung erstaunlich aufschlussreich sein und den nachfolgenden Austausch beflügeln.
Für mich gibt es im Grunde zwei ganz klare No-Gos. Nummer eins ist die Vernachlässigung bestimmter Touchpoints beim Erstellen einer Omnichannel Customer Journey Map, weil wir z. B. denken, dass dieser keine Relevanz für den Kunden hat. Nummer zwei hängt hiermit zusammen und zielt auf eine Unkenntnis der Zielgruppe mit ihren Bedürfnissen ab. Beides sorgt dafür, dass zwischen Kunden und Unternehmen eine Erwartungslücke klafft.
Frank: Kurz gesagt muss die optimale Omnichannel Customer Journey die maximale Customer Experience bei dem entsprechenden Kunden hervorrufen. Dies sollte durch relevante KPIs wie z. B. dem Customer Satisfaction Score belegt werden. Gleichermaßen muss man aber auch die Churn Rate beobachten, um zu ermitteln, wie eine entsprechende Journey wahrgenommen werden muss.
Mit Blick auf die Erarbeitung und Umsetzung einer Omnichannel-Strategie in einem Unternehmen: Ein Top-down- oder Bottom-up-Prozess?
Frank: Die Omnichannel-Strategie muss Top-down getriggert, getragen und promotet werden. Hierbei ist die Kommunikation ein entscheidender Erfolgsfaktor. Für eine erfolgreiche Omnichannel-Strategie ist ein Umdenken im Unternehmen erforderlich. Wie nehmen die Mitarbeiter Innovationen und Veränderungen wahr und können sich diese von dem häufig vorgefundenen Silo-Denken verabschieden? Solche Herausforderungen bringen einen teilweise hohen Einführungsaufwand mit sich und müssen mit gutem Change-Management begleitet werden, um die neuen Anforderungen an die Mitarbeiter zu kommunizieren. Es gilt, alle involvierten Abteilungen innerhalb und außerhalb des Unternehmens möglichst schnell zu integrieren und zusammenarbeiten zu lassen, sodass der Ansatz dann auch Bottom-up mitgetragen wird.
Kristina: Ich sehe es auch so: In gewisser Weise ist beides notwendig. Eine Omnichannel-Strategieentscheidung muss immer von allen Ebenen eines Unternehmens gleichsam getragen werden. Auch wenn in einem Großteil der Fälle ein strategisches Vorhaben wahrscheinlich eher Top-down initiiert wird, ist es im Omnichannel-Kontext umso wichtiger, im nächsten Schritt Bottom-up auch die Bereiche nicht außen vor zu lassen, die in direktem Kontakt mit den Kunden stehen.
In meiner früheren beruflichen Vergangenheit habe ich schnell gelernt, wie wichtig es ist, insbesondere die operativen Businessbereiche mit in die Entwicklung neuer Services einzubeziehen. Wenn die Kollegen aus diesen Bereichen von Anfang an mit dabei sind, können sie bereits frühzeitig auf mögliche Stolpersteine hinweisen. Außerdem schafft Partizipation Akzeptanz.
Wie bewertet ihr die zukünftige Entwicklung und Bedeutung von physischen Kanälen wie z. B. Filialen?
Frank: Meine klare Meinung hierbei ist, dass die Kunden während der Pandemie die Online-Kanäle schätzen gelernt haben und Corona hier als Accelerator agiert hat. Dieses lieb gewonnene Verhalten wird sich auch in Zukunft für die physischen Läden niederschlagen. Was heißt das genau? Aus meiner Sicht wird sich die Anzahl der physischen Geschäfte einer Marke reduzieren. Die Geschäfte, die übrig bleiben, werden ihr Erscheinungsbild ändern. Wir werden mehr und mehr sogenannte Flagship-Stores oder Experience Tempel sehen, wo den Kunden wahre Einkaufserlebnisse geboten werden. Hier kann man z. B. bei einem Buchhändler den nächsten Roman testen und sich nebenbei einen Kaffee von einem Barista zubereiten lassen. Oder man kann die Kosmetik durch einen ausgebildeten Visagisten direkt testen und sich anleiten lassen.
Kristina: Als frühere E-Commerce-Managerin im Luxury Fashion Retail bin ich ebenfalls davon überzeugt, dass sich die Art und Weise, wie Kunden das Geschäft als physischen Touchpoint erleben werden, in den kommenden fünf bis zehn Jahren verändern wird. Nicht ändern wird sich jedoch die Relevanz des Geschäfts für den Kunden und ganz und gar sehe ich nicht, dass das Geschäft vollständig dem Online Retail weichen muss. Ganz im Gegenteil: Wir sehen heute sogar einige Pure Onliner, die unsere Fußgängerzonen mit neunen Ladenkonzepten erobern.
Veränderte Konsumbedürfnisse in der Zukunft sowie technologische Trends und Innovationen werden allerdings – auch außerhalb dem Luxury Fashion Retail – dafür sorgen, dass sich das Erscheinungsbild der Stores verändern wird. Da stimme ich Frank voll und ganz zu. Hiermit einher geht auch ein neues Anforderungsprofil an den Verkaufsberater der Zukunft.
Welche Unternehmen haben die Herausforderung Omnichannel aus eurer Sicht sehr gut gemeistert? Könnt ihr ein Beispiel nennen?
Kristina: Ich gestehe, dass ich früher im deutschen Markt immer (mit einem leicht neidischen Blick) auf HUGO BOSS geschaut habe, weil sie für mein Empfinden ihr On- und Offline-Business perfekt verzahnt haben. Als Besucher des Onlineshops kann ich zum Beispiel auf jeder Produktseite direkt die Verfügbarkeit in einem Geschäft in meiner Nähe prüfen. Was mich aber wirklich beeindruckt hat als es gelauncht wurde, war die Möglichkeit, dass ich als Kunde beim Check-out mit Click & Collect direkt einen Termin für die Abholung meiner Bestellung im Geschäft vereinbaren kann. Das ist für mich die perfekte Online-Offline-Brücke. Natürlich musste ich es selbst „testen” und wurde nicht enttäuscht. Da muss ich wirklich sagen: Gut gemacht, HUGO BOSS!
Frank: Aus meiner Sicht hat DOUGLAS die Herausforderung Omnichannel sehr gut gemeistert. Sie haben es geschafft mit Beginn der Pandemie ein nachhaltiges Onlinegeschäft aufzubauen und Services anzubieten, die eine maximale Kundenzufriedenheit hervorgerufen haben. Dank dieses starken Online-Geschäfts konnte DOUGLAS trotz der monatelangen Corona-bedingten Schließungen im Filialgeschäft ihren Umsatz 2021 halten. Das Umsatzplus im Onlinehandel von fast 50 Prozent im Jahr 2021 zum Vorjahr hat den pandemiebedingten Rückgang bei den Filialen von rund 19 Prozent auf vergleichbarer Fläche kompensiert.
Während dieser Zeit hat DOUGLAS auch bereits die physischen Geschäfte in Experience Tempel umgebaut, die bei der entsprechenden Zielgruppe wohl kaum Wünsche offenlässt. Für mich ein klarer Gewinner!